Mittwoch, 12. Dezember 2012

Rumer (7.)

Ich sehe Livvy nach, wie sie zwischen den Sträuchern verschwindet. Man erkennt an ihrem sicheren Gang, dass sie sich hier auskennt. Das ist ihre Welt. Aber sie muss sie verlassen. Jetzt, wo die Cazanara wissen, dass sie ein Angen ist, ist es hier nicht mehr sicher für sie. Und für mich auch nicht. Ich habe unseren Anführer attackiert. Darauf gibt es bei uns die Todesstrafe. Vielleicht klinge ich altmodisch, aber ich hänge an meinem Leben, so bescheiden es auch ist.
Seufzend lasse ich mich auf einen Baumstumpf sinken und zupfe an der Sehne meines Bogens. Das Geräusch, das dabei entsteht, beruhigt mich etwas. Kaum zu glauben, dass mich überhaupt irgendwas beruhigt. Immerhin habe ich gerade mein Zuhause verloren. Meinen Stamm. Jetzt jagen sie mich. Und ich befinde mich immer noch auf ihrem Territorium. Nicht gerade ideal.
Gedankenverloren schieße ich ein paar Pfeile auf die umherstehenden Bäume.
Bei Pfeil Nummer sechs sagt plötzlich jemand hinter mir: >>Was besseres hast du nicht zu tun?<<
Blitzschnell ziehe ich den nächsten Pfeil, lege ihn auf die Sehne und drehe mich mit gespanntem Bogen um.
>>Du willst schon wieder auf mich schießen? Ich bin echt enttäuscht, Rumer.<<, scherzt Navin und lacht. Aber ich lasse den Bogen nicht sinken. Ich ziele direkt auf sein Herz. Wird er mich erschießen, wenn ich ihm die Chance dazu gebe?
>>Was willst du hier?<<, frage ich.
Navin kommt ganz gelassen auf mich zu. Mein Pfeil bleibt weiter auf sein Herz gerichtet. Er kommt näher. Aber ich schieße nicht. Ich kann nicht.
>>Lass den Bogen sinken. Sonst verletzt du noch jemanden.<<, meint er mit einem abschätzigem Blick auf mich. Er weiß, dass ich nicht auf ihn schießen kann. Widerwillig lasse ich von meinem Ziel ab und hänge mir meinen Bogen wieder um. >>Braves Mädchen.<<, sagt Navin und grinst.
>>Was willst du hier?<<, frage ich erneut.
>>Meiner langjährigen Jagdpartnerin helfen, was sonst?<<, antwortet er und schmeißt mir meine Jagdtasche vor die Füße. Misstrauisch nehme ich sie an mich und schaue hinein. Da ist alles drin. Meine Kleidung, meine Wurfmesser und etwas Nahrung.
Verwundert sehe ich ihn wieder an. >>Wie hast du das alles aus dem Lager bekommen?<<
>>Alle sind weg, um dich zu suchen.<<, erwidert er leichthin, als würde ich nur Verstecken mit dem Stamm spielen und nicht um mein Leben kämpfen.
>>Danke.<< Meine Stimme versagt. Das hätte ich niemals erwartet. Er ist ein ganz schön großes Risiko eingegangen, um mir die Sachen zu bringen.
Wir schweigen eine Weile. Dann, nur um das Schweigen zu brechen, frage ich: >>Wie hast du mich überhaupt gefunden?<<
Er wirkt belustigt. >>Komm schon , Rumer. Ich weiß wie du denkst. Immerhin bin ich drei Jahre lang mit dir zusammen jagen gegangen. Da lernt man sich besser kennen, als durch reden.<< Navin hat recht. Auch wenn er ein Idiot ist, so sind wir doch ein eingespieltes Team. Er weiß, wie ich handle, denke, mich fortbewege. Und ich weiß es bei ihm. Natürlich war ihm klar, dass ich zum Bach gehen würde, damit Liv noch Proviant besorgen kann. Genauso wie ihm klar war, dass ich die Sachen, die er mir gebracht hat, dringend brauche, um in der Wildnis zu überleben, denn das werden Livvy und ich jetzt tun müssen. In der Wildnis leben. Vorausgesetzt wir schließen uns nicht einem anderen Stamm an, der weiter weg ist. Aber ich denke die Nachricht, dass Liv ein Angen ist wird sich schneller verbreiten, als wir ohne Pferde laufen können.
Navin mustert mich. >>Was ist?<<, frage ich und hebe eine Augenbraue.
>>Ich wusste schon immer, dass du etwas besonderes bist, aber das du ein Angen bist... Da wäre ich nie drauf gekommen. Aber deine Augen sind blau. Das sehe ich heute zum ersten Mal.<<
Erst will ich es abstreiten, aber was würde mir das schon bringen?
>>Tja, ich hab es eben gut versteckt.<<, antworte ich also wahrheitsgemäß.
>>Ja, allerdings. Du hast uns alle getäuscht.<< Navin kommt noch näher, was mir so unangenehm ist, dass ich aufspringe und einige Schritte zurück gehe, aber er ist nach nur zwei großen Schritten wieder bei mir. Ich will noch weiter zurückweichen, aber ich stoße mit dem Rücken an einen Baum. Als ich zu Seite weg will, stemmt er links und rechts von mir seine Arme gegen den Stamm, sodass ich eingekesselt bin.
>>Was soll das?<<, beschwere ich mich und versuche ihn weg zu schieben, aber er lässt sich nicht bewegen. Seine Augen bohren sich in meine.
>>Mach ich dich nervös?<<, fragt er amüsiert.
>>Ganz sicher nicht.<<, gebe ich trotzig zurück.
>>Nein? Gut, dann hast du sicher auch kein Problem damit, wenn ich mich verabschiede, oder?<<
Wieso sollte ich damit ein Problem haben?
>>Nein, verabschiede dich ruhig. Aber ich werde dich nicht umarmen!<<, meine ich und muss grinsen.
>>Keine Angst ich werde dich auch nicht umarmen.<<, meint er. Irgendwas an der Art, wie er es sagt, gefällt mir nicht. Und sein selbstgefälliger Blick schon gar nicht. Aber bevor ich irgendwas sagen kann, nimmt er mein Gesicht in seine Hände und... küsst mich. Ich erstarre. In meinem Kopf wechselt es von Chaos zu totaler Leere und wieder zu Chaos. Alles spielt verrückt. Ich will Navin wegstoßen, aber ich kann mich nicht bewegen.
Er hört auf mich zu küssen, tritt einen Schritt zurück und mustert mich neugierig, wartet auf eine Reaktion. Und die kommt. Ich hole aus und klatsche ihm eine.
>>Autsch.<<, sagt er scherzhaft und hält sich die Wange.
>>Du Idiot! Was sollte das?<<, frage ich und sehe ihn entgeistert an.
Er schmunzelt. >>Ich wollte mich nur verabschieden.<<
>>Aber warum so?<< Ich beiße mir von Innen auf die Wange, bis ich Blut schmecke.
>>Weil ich nicht weiß, ob ich je wieder die Chance bekommen werde dich zu küssen, wenn du erst einmal weg bist und da wollte ich meine vielleicht letzte Gelegenheit nutzen.<<, sagt er und grinst.
>>Selbst wenn wir uns wieder sehen sollten, wirst du nie wieder die Chance bekommen mich zu küssen! Wenn ich gewusst hätte, was du vor hast, hätte ich dich erschossen!<<, fauche ich ihn an.
Er lacht. Er steht einfach da und lacht.
>>Was ist so witzig?<<, frage ich gereizt.
>>Du!<<, meint er, immer noch lachend. >>Ich erzähl dir Dinge, die andere Mädchen mega romantisch finden würden und du willst mich nur wieder erschießen.<<
Oh ja! Und wie ich ihn erschießen will!
>>Du bist ganz rot Rumer.<<, meint er dann amüsiert. Ich sehe zu Boden.
>>Bin ich gar nicht.<<, widerspreche ich, obwohl er wahrscheinlich recht hat.
>>Und ob. Ich find's richtig süß, wenn du verlegen bist, weißt du das?<< Ich fühle mich hilflos. Schon wieder.
>>Ich. Bin. Nicht. Verlegen!<<, schreie ich ihn an.
>>Wie du meinst.<< Navin wuschelt mir durchs Haar. >>Bis dann.<<
Mit diesen Worten dreht er sich um und verschwindet in Richtung Cazanara Stamm. Und lässt mich alleine und aufgebracht zurück.
Ich hätte niemals gedacht, dass mein erster Kuss ein Abschiedskuss sein würde. Und dann auch noch mit Navin. Ich balle die Hände zu Fäusten. Er hat mich vollkommen durcheinander gebracht. Dieser Idiot!
Da höre ich plötzlich ein Kichern und schaue auf. Livvy steht zwischen zwei Bäumen und versucht krampfhaft nicht zu lachen. Sie hat es also gesehen. Na toll!
>>Sag nichts!<<, verbiete ich ihr und hebe drohend einen Finger.
>>Okay.<<, meint sie und fügt dann lachend hinzu: >>Aber du siehst aus wie eine Tomate.<<

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