Donnerstag, 13. Dezember 2012

Livvy (8.)

Das hätte ich lieber nicht sagen sollen. Auch wenn es der Wahrheit entspricht, denn Rumer war nach dem Kuss ein leuchtend rotes Tomätchen.
Wir laufen hier jetzt schon seit einer halben Ewigkeit ohne Unterbrechung durch den Wald. Ich kann nicht mehr und trotte Rumer ausgelaugt hinterher. Sie scheint es zu genießen, wie ich leide. Aber ich gebe nicht nach. Noch nicht. Wir müssen vorankommen.
Dieses elendige Schweigen liegt zwischen uns und ich komme mir blöd vor. Ich hasse es, wenn jemand sauer auf mich ist. Dabei habe ich bloß die Wahrheit gesagt. Diese Stille soll unterbrochen werden. Ich muss mit ihr über irgendetwas reden. Nur nicht von Navin und ihr, sonst habe ich nachher noch irgendwo in meinem Körper einen Pfeil stecken.
>>Weißt du noch..der Tag, an dem wir Willow zurückgelassen haben?<<, sage ich leise.
>>Wirklich? Du hattest alles mögliche zur Auswahl und dann fängst du mit diesem Thema an?!<<, erwidert Rumer. Doch ich lasse mich nicht davon abbringen mit ihr darüber zu reden. Ich habe in den vier Jahren seit der Flucht nicht ein einziges Mal über meinen Verlust gesprochen. Sie ist meine jüngere Schwester. Ich muss es verstehen. All das, was passiert ist.
>>Wir hatten doch alles so gut geplant. Es hätte doch gar nichts schief gehen dürfen, Rumer.<< Meine Stimme ist brüchig.
>>Es wäre ja auch alles gut gegangen. Es war schließlich mein Plan. Doch irgendein verschissener Dreckskerl hat uns verraten! Wir können nichts dafür, dass Willow es nicht geschafft hat.<<
>>Ich bin doch ihre große Schwester. Warum bin ich so verantwortungslos?! Ich hätte sie nicht da lassen sollen. Was ist, wenn sie tot ist, oder wenn sie mich nicht mehr erkennt. Ich bin an allem Schuld. Ich hätte..ich hätte einfach bei ihr bleiben sollen!<< In meinen Beinen lässt vor Erschöpfung und Verzweiflung der Halt nach, und ich kippe zur Seite. Ich starre für einen Moment ins Leere. Bilder von Willow ziehen in meinen Gedanken umher, und ich lächle leicht. Sie war so niedlich. Aus ihr hätte mal eine richtige Schönheit werden können.
>>Nicht dein Ernst, oder? Du kannst jetzt schon nicht mehr?<<, fragt Rumer und sieht mich an. Ich kann ihren Blick nicht deuten. Er ist eine Mischung aus Sich-lustig-machen und Mitleid.
Angestrengt stehe ich auf. Hat sie das gerade ehrlich gefragt? Ich schütte mir hier mein Herz aus, und sie tritt den ganzen Inhalt ohne eine Miene zu verziehen weg.
Wir gehen weiter. Es vergeht einige Zeit, bis Rumer mit entschlossener Stimme sagt: >>Wir werden sie finden!<<
>>Wen meinst du?<<, frage ich verwundert.
>>Na, Willow. Und Dereck und Keeden natürlich auch.<<
Ich bin ziemlich überrascht von dem ganzen Optimismus. Normalerweise bin ich diejenige, die alles besser sieht als Rumer. Ich muss lachen.
>>Warum lachst du? Ich meine das ernst.<<
>>Ich glaube dir ja auch. Aber hier irgendwo in der Gegend soll es Leuchthörnchen geben. Du weißt schon. Flughörnchen, die Nachts leuchten.<<, sage ich und pruste los.
>>Ja, aber diese kleinen Dinger sollte man nicht unterschätzen. Sie haben einen aus meinem Stamm. Oh Moment, aus meinem ehemaligen Stamm, fast getötet.<<, meint Rumer mit ernster Miene. Aber dann lacht sie mit mir. Man kann sich nicht vorstellen, dass so putzige Tierchen auch aggressiv sein können.
Die Sonne ist schon fast hinter den Bäumen verschwunden, und wir beschließen unser Lager auszubreiten. Ich packe das Zelt aus, doch Rumer stößt mich zur Seite. Sie meint ich wäre zu langsam für sowas. Bin ich zwar auch, aber das muss ja niemand wissen.
Ich kümmere mich um das Lagerfeuer. Es wird nur ein kleines, denn wir haben nicht vor, die ganze Nacht davor zu hocken. Rumer ist erstaunlich schnell fertig mit dem Aufbau, und wir verstauen unsere Taschen in dem Zelt. Ich gehe wieder raus und fange an, eines meiner Brötchen zu essen. Rumer holt zwei Äste und steckt sie neben das Feuer. Auf einen dritten Ast spießt sie einen Hasenschenkel und legt ihn auf die anderen beiden. Man muss sich zu helfen wissen, wenn man in der Natur zu Hause ist.
Ich bin früher fertig als Rumer und gehe als Erste in das Zelt, um mich von dem anstrengenden Tag zu erholen. Nach einigen Minuten höre ich, wie sie das Feuer löscht. Ihre Schritte nähern sich dem Zelt, und der Reißverschluss öffnet sich. Sie schlüpft rein und schließt ihn wieder.
Wir reden noch eine Zeit lang über die Jahre, in denen wir uns für verloren hielten und über den heutigen Tag.
Ich sehe eine Sternenschnuppe, oder zumindest ihre Umrisse. Dann noch eine und eine Dritte. Es sind so viele, dass ich nicht mehr daran glaube, dass es Sternenschuppen sind. Ich stupse Rumer an, und sie sieht mich ratlos an.
>>Ich sehe mal nach, was da draußen los ist. Und du bleibst wo du bist!<<, sagt Rumer und steht auf. Sie öffnet langsam den Verschluss der Zeltes und späht raus. Sie schnappt sich ihren Köcher und den Bogen und geht raus. Ich höre, wie ein Pfeil durch die Luft schnellt. Ich bin so neugierig, dass ich ebenfalls aufstehe und hinausschleiche.
Mit einem Mal springt mir etwas ans Bein und ein kaum erträglicher Schmerz lässt mich aufschreien. Ich sehe, wie kleine leuchtende Tierchen von Baum zu Baum springen.
>>Leuchthörnchen!<<, schreien Rumer und ich wie aus einem Mund.

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