Samstag, 22. Juni 2013

Rumer (43.)

Ich stehe da wie erstarrt und sehe in die Richtung, in der Navin verschwunden ist, ohne irgendwas wirklich wahr zu nehmen.
Seine Frage beschäftigt mich, weil sie viel über das aussagt, was mich ausmacht. Hätte ich für ihn auch Rücksicht genommen, wenn ich mich in Keeden verliebt hätte? Oder liegt es nur daran, dass ich seinen Schmerz am eigenen Leid spüren muss? Anders gefragt: Will ich wirklich nur die Leute nicht verletzen, die mir am Herzen liegen, oder hat es egoistische Gründe? Denke ich dabei nur an mich?
Und um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht.
Klar, ich denke, dass es wegen Keeden ist, aber vielleicht rede ich mir das ja auch nur ein, damit ich besser damit klar komme. Ich bin auch nur ein Mensch. Sind wir Menschen nicht irgendwo alle egoistisch?
Seufzend setze ich mich auf den Boden und rupfe ein paar Grashalme aus. Was jetzt? Ich will Keeden und den anderen gerade nicht begegnen, aber genauso wenig kann ich Navin nachlaufen. Er will seine Ruhe haben und das kann ich ihm echt nicht verübeln. Ich an seiner Stelle hätte mir wahrscheinlich eine rein geschlagen.
Aus den Grashalmen sind mittlerweile richtige Grasbüschel geworden, die ich aus der Erde reiße und dann wütend gegen einen Baum werfe. Die Wut füllt mich aus. Wut auf mich selbst.
Ich habe es gerade wirklich fertig gebracht innerhalb kürzester Zeit zwei von den Menschen zu verletzten, die mir am meisten bedeuten. Meisterleistung. Sowas kann auch nur mir passieren.
Plötzlich ertönt ein lauter Schrei und ich springe auf. Das war ein Mensch! Sofort schnappe ich mir meinen Bogen und laufe in die ungefähre Richtung, aus der der Schrei gekommen ist. Dann werde ich langsamer, weil ich mir nicht mehr sicher bin, wo ich lang muss. Bis ein erneutet Schrei ertönt, gefolgt von lauten Rufen.
Ich kenne diese Stimmen. Das sind meine Freunde.
Mein Herz sackt mir in die Hose und ich fange an zu rennen. Dabei springe ich über Steine und andere Hindernisse und ducke mich unter tief hängenden Ästen hindurch. Trotzdem peitschen mir immer wieder Zweige ins Gesicht und reißen meine Haut auf, aber das ist mir egal. Ich muss zu ihnen! Was anderes zählt gerade nicht.
In meinem Kopf herrscht jetzt anstelle des Chaos totale Leere und dafür bin ich dankbar, denn so kann ich mich besser auf das konzentrieren, was vor mir liegt.
Dann sehe ich sie. Keeden und Dereck stehen mit den Rücken zueinander, Livvy zwischen ihnen, und schießen Pfeile in alle Richtungen ab. Als ich näher komme, erkenne ich auch, worauf sie schießen: Kängururatten! Das sind mutierte Ratten, in der Größe von Hasen, die bis zu drei Meter hoch springen können. Und ihre Bisse sind meist tödlich.
Ich sprinte so schnell ich kann zu ihnen, durchbohre drei Kängururatten dabei tödlich mit meinen Pfeilen und stelle mich zu Keeden und Dereck.
>>Ru!<<, sagt Livvy, die den Tränen nahe ist und berührt mich an der Schulter.
>>Ich glaube die Wiedersehensfreude sollten wir auf später verschieben.<<, erwidere ich und fange an auf die Ratten zu schießen. Der Ringfinger und der kleine Finger an meiner linken Hand sind immer noch taub und ich habe die Hoffnung auf Besserung aufgegeben, aber das hindert mich nicht daran, dass jeder Schuss sitzt.
Wir schaffen es die kleinen Biester auf einen Abstand von zwei Metern zu halten, aber wir wissen alle, dass uns das nicht ewig gelingen wird. Es sind zu viele und unsere Pfeile sind bald leer.
Livvy fängt an zu weinen und Dereck ist einen Moment davon abgelenkt. Lange genug für eine Kängururatte, um ihre spitzen Zähne in sein Bein zu schlagen.
>>Scheiße!<<, fluche ich und will sie erschießen, doch bevor ich mich auch nur umgewandt habe, zischt ein Pfeil durch die Luft und das Vieh rutscht leblos zu Boden. Ich blicke mich um und sehe Navin mit gezücktem Bogen ein paar Meter von uns entfernt stehen. Er nickt mir kurz zu und schießt weiter.
Ich konzentriere mich ebenfalls wieder auf das Geschehen. Nebenbei nehme ich war, dass Dereck zu Boden sackt und mein Magen krampft sich zusammen.
Livvy schreit.
Dereck keucht.
Ich schieße. Immer und immer weiter. Bis mein Köcher leer ist.

Sonntag, 16. Juni 2013

Navin (42.)

Rumer ist ganz blass und sieht gequält aus. Ich helfe ihr auf und will sie stützen, doch sie stößt mich weg.
>>Nein. Fass mich nicht an. Bitte.<<, sagt sie und sieht mich mit ihren großen graublauen Augen traurig an.
>>Was ist los? Habe ich was falsch gemacht?<<, frage ich und versuche nicht verzweifelt zu klingen, obwohl ich es bin. So lange habe ich schon darauf gewartet mit Rumer zusammen sein zu können. Sie berühren zu können. Sie zu küssen. Und jetzt, wo ich dachte, ich hätte es geschafft, wo sie gesagt hat, dass sie mich auch liebt, stößt sie mich weg. Und mir stellt sich jetzt die Frage, wieso.
>>Nein! Es ist nicht deine Schuld. Es ist wegen Keeden.<<, sagt sie und weicht meinem Blick aus. 
Ich spüre, wie sich Wut in mir breit macht und mein Unterkiefer sich anspannt. >>Wegen diesem Idioten? Was ist mit ihm? Liebst du ihn? Seit ihr zusammen?<< Ich weiß, dass es unfair ist, sie anzuschreien, aber wenn ich nicht schreie und wütend bin, bin ich verletzt und dann bin ich noch unausstehlicher.
>>Nein. So ist es nicht.<<, beteuert sie und sieht mich verzweifelt an, aber ich bleibe hart.
>>Ach ja? Und wie ist es dann? Hat er dich abgewiesen und du suchst jetzt bei mir Trost?<< Ich spucke die Worte förmlich aus und muss mich zusammenreißen um nicht irgendwo gegen zuschlagen.
Jetzt wirkt sie gekränkt. >>Wie kannst du sowas auch nur denken? Ich liebe dich, Navin! Das ist mein voller Ernst!<<
Sie hat es schon wieder gesagt. Und diese drei kleinen Wort aus ihrem Mund wirken wie Medizin für meinen Zorn. Ich entspanne mich und nehme sie in den Arm, doch sie blockt wieder ab.
>>Nein. Das geht nicht. Nicht jetzt.<<
>>Wieso nicht?<<, frage ich verwirrt und sehe sie an.
>>Weil er in der Nähe ist. Ich kann es spüren. Und er ist sauer, weil ich dich liebe.<<
Ich verstehe nur Bahnhof. Aber der letzte Teil gefällt mir. >>Das musst du mir, denke ich, etwas genauer erklären.<<
>>Damals in dem Labor haben Keeden und ich irgendwann festgestellt, dass wir spüren können, was der andere fühlt. Das geht aber nur, wenn wir nahe beieinander sind. Als ich beim Stamm war, ist diese Verbindung abgerissen, aber jetzt ist sie wieder da. Und als ich dir gerade gesagt habe, dass ich dich liebe, da habe ich es auch gefühlt. Und Keeden auch, denn seine Wut hat mich förmlich überrollt. Das heißt, dass sie ganz in der Nähe sind.<<, erklärt sie und ich versuche zu begreifen, was das bedeutet.
>>Das heißt, ich darf dich nicht mehr berühren?<<, frage ich ernüchtert.
Sie schüttelt traurig den Kopf. >>Wenn du mich berührst, oder küsst, explodieren meine Gefühle förmlich in mir. Und das verletzt Keeden. Und wenn er meinetwegen verletzt ist... das ertrage ich nicht. Er hat so viel für mich getan und ich...<<
>>Du fühlst dich schuldig.<<, stelle ich fest. Sie nickt. >>Du fühlst dich schuldig, weil du die Gefühle, die er für dich hat, nicht erwiderst.<< Wieder ein Nicken. >>Und darum denkst du, dass du auch nicht glücklich sein darfst.<<
>>Ich kann nicht auf Kosten eines Menschen glücklich sein, der mir am Herzen liegt!<<, faucht sie. Sie wird jetzt wütend, weil sie vor mir nicht schwach aussehen will.
>>Und wenn es andersrum wäre? Wenn du dich in ihn verliebt hättest und nicht in mich? Hättest du dann für mich auch Rücksicht genommen? Oder tust du es nur, weil du seinen Schmerz spüren kannst und dich das fertig macht?<< Ich sehe in ihre Augen. Und sie sieht erschrocken zurück. Mit dieser Frage hat sie nicht gerechnet. Wahrscheinlich hat sie selbst nicht einmal darüber nachgedacht.
Sie öffnet den Mund, um etwas zu sagen, schließt ihn jedoch dann wieder. Das ist mir Antwort genug.
>>Ich verstehe.<<, sage ich und drehe mich um, damit sie nicht sieht, wie sehr mich das verletzt.
>>Navin...<<, sagt sie, doch ich lass sie nicht weiter reden.
>>Lass gut sein, Rumer. Such deine Freunde.<< Ich schnappe mir meinen Bogen und meinen Köcher. >>Ich gehe jagen.<<
Bevor sie etwas erwidern kann, bin ich auch schon im Wald verschwunden.
Wütend und verletzt stapfe ich durchs Dickicht und bin dabei so laut, dass ich alle Beutetiere im Umkreis garantiert verschrecke, doch das ist mir egal. Alles ist mir egal.
Bis ein ohrenbetäubender Schrei ertönt und mich zurück in die Wirklichkeit reißt.

Samstag, 8. Juni 2013

Rumer (41.)

>>Hör auf damit! Wir müssen uns konzentrieren!<<, fauche ich Navin an, als er mich in den Nacken küsst.
Er seufzt und lässt seine Arme sinken, die er mir von hinten um die Taille geschlungen hatte. >>Was soll denn bitte schön passieren? Glaubst du wir werden von Schnecken angegriffen?<<, fragt er sarkastisch und sieht mich herausfordernd an. Er will mich provozieren. Viel Spaß dabei.
>>Ja, natürlich. Die Schnecken in den Strahlungzonen hier in der Nähe sollen Säureschleim ausstoßen. Hast du das noch nicht gehört?<<, frage ich tot ernst und für einen Augenblick scheint er ehrlich darüber nachzudenken, dass ich vielleicht die Wahrheit sage, aber dann kann ich mich nicht länger zusammen reißen und fange an zu lachen.
>>Du blöde Kuh!<<, knurrt Navin lachend und schleudert mich im Kreis herum.
Als er mich wieder absetzt, lachen wir beide und ich fühle mich unglaublich... glücklich.
>>Wir müssen jetzt echt weiter.<<, sage ich, doch Navin ignoriert das und küsst mich, was ich für ungefähr fünf Sekunden zulasse, bevor ich ihn von mir weg schiebe. >>Hör jetzt auf mit dem Unsinn, du Penner!<<
>>Du hast recht. Das hat auch noch Zeit bis später.<<, meint er und hebt einen Mundwinkel zu einem spitzbübischen Lächeln. Mir schießt die Röte in die Wangen und ich drehe mich weg, damit er es nicht sieht und gehe weiter.
Wir haben uns ungefähr fünf Tage Pause gegönnt und sind in der Zeit nicht weiter gezogen. Das war nötig und ziemlich erholsam, aber darum liegen wir jetzt auch etwas zurück. Natürlich bleibt uns noch genug Zeit, bis wir beim Treffpunkt sein müssen, aber ich möchte lieber etwas früher da sein, damit ich die Lage auskundschaften kann und schon mal mit der Umgebung vertraut werde, wenn wir uns dort länger aufhalten werden.
Ich kann nur hoffen, dass Chazz es schafft wenigstens ein paar Ausgestoßene zu überreden uns zu helfen. Es kann nicht sein, dass niemand von ihnen bereit ist etwas gegen die Leute zu unternehmen, die unsere Leben zerstört haben. Wobei ich vergleichsweise noch gut davon gekommen bin. Ich habe keine körperlichen Entstellungen und will kämpfen. Da müssten doch gerade sie, die von der gesamten Gesellschaft verstoßen werden, endlich etwas unternehmen wollen. Wir waren alle nur Versuchskaninchen und niemand hat uns geholfen. Wir wissen, was für Qualen man in dem Labor durchleiden muss. Wir können nicht zulassen, dass das noch anderen angetan wird. WIR MÜSSEN KÄMPFEN! Und ich bin bereit für die Sache zu sterben.
Navin legt mir eine Hand auf die Schulter. >>Hey. Alles okay?<<
Verwirrt sehe ich ihn an und merke erst jetzt, dass ich am ganzen Körper zitter. Ich schließe die Augen und versuche mich zu beruhigen, was mir nicht so recht gelingen will. Verdammt!
>>Ganz ruhig. Ich bin da.<<, flüstert Navin und nimmt mich in die Arme. Ich atme seinen Geruch ein und schmiege mein Gesicht an seine Brust. In mir wird es ganz still und meine Gedanken kommen zum Stillstand. Geborgenheit durchströmt jede Faser meines Körpers und das Zittern ebbt ab.
>>Danke.<<, murmele ich in sein Shirt und ziehe ihn enger an mich.
>>Keine Ursache.<<, sagt er und küsst mich auf den Scheitel.
Wie kommt es, dass ich diesen Jungen, der jahrelang mein Jagdpartner war, nie richtig gesehen habe? Ich habe ihn immer nur als großkotzigen Idioten gesehen, der blöde Sprüche von sich gibt, um mich zu ärgern und niemals den Menschen dahinter erkannt. Ich kann mir nicht erklären, warum es so lange gedauert hat, aber ich bin froh, dass mir endlich die Augen geöffnet wurden. Ich weiß nicht, was ich ohne ihn machen würde.
>>Ich liebe dich.<<, flüstere ich und sehe ihn an.
Er lächelt und beugt sich runter, um mich zu küssen, doch plötzlich werde ich von einer Welle von Zorn überrollt, die mich in die Knie zwingt. Ich schreie und presse mir die Hände an die Schläfen.
Navin ist sofort neben mir und legt mir einen Arm um die Schultern. >>Was ist los?<<
Ich kann nicht antworten. Die Schmerzen in mir sind zu stark und einen Augenblick, weiß ich selbst nicht vorher sie kommen, bis mir auffällt, dass es nicht mein eigener Schmerz ist. Es ist der von Keeden.
Das kann nur eines bedeuten.
>>Sie sind hier.<<, presse ich durch zusammengebissene Zähne hervor und versuche Keedens Gefühle auszuschließen, aber es funktioniert nicht. Vielmehr kommt es mir so vor, als würde ich sie dadurch nur noch verstärken.
Und dann wird mir klar, woher sein Schmerz rührt. Ich habe Navin meine Liebe gestanden. Weil ich sie  gefühlt habe. Das heißt Keeden hat sie auch gespürt, wenn er in der Nähe ist.
Ich habe ihm das Herz gebrochen.