Dienstag, 11. Dezember 2012

Livvy (6.)

Stimmengewirr weckt mich. Ich brauche einen Moment bis ich mich an alles erinnere, was gestern passiert ist. Ich habe lange geschlafen, dennoch fühle ich mich erschöpft.
Das Gemurmel draußen vor der Tür stoppt. Plötzlich wird die Tür aufgerissen und ein Typ mit schwarzem Zopf zerrt mich aus der Hütte ins Freie. Er schleift mich hinter sich her und ich habe keine Möglichkeit mich zu befreien. Unsanft stößt er mich auf den Boden der Lichtung. Der gesamte Stamm steht um mich versammelt. Misstrauische und finstere Blicke liegen auf mir. Ich fühle mich erdrückt und ich bekomme Angst. Wo ist Rumer? Ich entdecke sie, wie sie hinter älteren Stammesmitgliedern besorgt zu mir schaut.
Na super. Ich will gar nicht wissen, was sie jetzt mit mir vor haben. Immer schön atmen. Ein und aus, ein und aus. Oh verdammt, wie kann sie nur einfach da stehen ohne mir hier zu helfen. Ich kann nicht kämpfen. Ich bin ihnen ausgeliefert.
Jetzt reiß dich mal zusammen! Ich habe schon viel durchgestanden. Vier Jahre habe ich meine Identität verschleiert und wurde weltklasse Heilerin. Also beweg jetzt deinen Arsch aus den Selbstzweifeln.
Nachdem ich meine Panik runtergewürgt habe, bin ich jetzt fast bereit für das, was mir bevor steht. Der Stammeshäuptling, der sich mir als Lisandro vorstellt, fragt mich, warum mein Stamm die Frechheit besitzt auf Cazanara-Boden zu jagen. Ich sehe zu Boden und antworte zögerlich: >>Ich weiß es nicht. Ich bin keine Jägerin. Ich war nur da, um mögliche Verletzte zu versorgen, denn ich bin eine Heilerin.<<
>>Sieh mich an, wenn du mit mir sprichst!<<, schreit er, packt meine Haare und zieht meinen Kopf nach hinten. Er starrt mich an und ein Raunen geht durch den versammelten Stamm. >>Ihre Augen. Seht doch nur!<<, schreit ein kleines Mädchen.
>>Sie ist eine von ihnen! Tötet sie!<<, ertönt es von einer anderen Seite.
Verdammt scheiße, wie konnte ich ihn nur ansehen! Hoffentlich komme ich hier irgendwie wieder raus. Lisandro spannt seinen Bogen, doch ein Pfeil, der seine Schulter trifft, lässt ihn stocken. Es war Rumer, die ihn abgeschossen hat und sie rennt auf mich zu und packt mich. Wir rennen zusammen durch die aufgeschreckte Horde des Cazanara Stammes.
Einige Pfeile verfehlen uns knapp. Ich bin Rumer eindeutig etwas schuldig, denn es ist schon das zweite Mal seit gestern, dass sie mich vor dem Tod bewahrt. Nach mir endlos erscheinender Zeit gelangen wir zu dem kleinen Bach, der die Stämme voneinander trennt. Dort bleiben wir stehen und verschnaufen. Rumer hat sich nach wenigen Sekunden schon wieder erholt, denn Jäger haben eine bessere Kondition. Ich keuche und ringe nach Luft. Ich bin es nicht gewohnt so schnell und lange zu rennen. Ich lege mich auf den Bauch und schließe kurz meine Augen, aber Rumer tritt mir auf den Po und ich drehe mich um.
>>Was machst du da? Zum Schlafen oder Meditieren haben wir jetzt keine Zeit Liv!<<, raunt sie mich an und ich stehe erschöpft wieder auf. Sie hat recht. Wir müssen damit rechnen, dass die anderen uns verfolgen. Jetzt da sie wissen, dass ich ein Angen bin, werde ich gejagt und Rumer, die mich verteidigt hat, anstatt mich zu töten, garantiert auch. So wird die Jägerin ganz plötzlich zum Gejagtem.
>>Ich gehe und hole mir eine größere Tasche. Dann kann ich uns auch gleich Nahrung mitbringen und alles zusammensuchen, was ich brauche um zu heilen.<<, sage ich zu Rumer.
>>Okey. Habt ihr zufällig auch Zelte oder sowas? Ich habe nämlich keine Lust Nachts auf dem Waldboden zu liegen.<<, erwidert Ru und ich erkenne ein kleines Lächeln um ihr Lippen.
>>Ja haben wir. Das bringe ich gleich mit. Dann gehe ich jetzt mal.<< Ich drehe mich um und gehe. Doch bevor ich zwischen den Bäumen verschwinde, drehe ich mich nochmal um und sage: >>Danke Ru. Für alles, was du je für mich getan hast. Und für alles, was noch kommen mag. Dankeschön.<<
Noch bevor sie antwortet, drehe ich mich um und laufe los.
Auf dem Weg zu meinem Zelt laufe ich an der kleinen Meditationsstelle vorbei und sehe, wie sich Allayah um die Kleinen kümmert. Sie sind ruhig. Trainiert und ausgelassen sitzen sie vor ihrer Stammesältesten und hören ihr zu, wie sie ihrer besänftigenden Stimme lauschen. Langsam staucheln sie in ihre innere Mitte.
Ich schmunzel. Kaum zu glauben, dass es schon vier Jahre her ist, seitdem ich hier aufgenommen wurde. Ich schleiche weiter, um niemanden aus der Trance zu erwecken.
Mein Zelt sieht noch genauso aus, wie ich es hinterlassen habe, als ich mich gestern um die Verletzten kümmern musste. Keinem scheint es aufgefallen zu sein, dass ich weg war.
Ich nehme meine größte Tasche, auf der ein Puma abgebildet ist. Ich weiß nicht, was das Symbol bedeutet, aber er stärkt mich irgendwie.
Ich gehe weiter zu dem Vorratsraum und stecke mir einiges ein. Es ist keiner da, der mich daran hindern könnte. Nebenan ist der Medizinraum. Ich bin in meinem Element. Ich kann alles behalten, was ich je gelesen habe. Es ist so eine Art fotographisches Gedächtnis. Schon praktisch für eine Heilerin wie mich.
Ich packe mir genug medizinisches Material für die verschiedensten Verletzungen ein und gehe zu Melvit, dem Sohn von Allayah. >>Hast du noch ein Zelt für mich?<<, frage ich ihn und er mustert mich kritisch.
>>Ich denke schon. Wofür brauchst du es denn?<< Fragend sieht er mich an. Hmm. Ich weiß, wie ich ihn Glauben machen kann.
>>Ich will ein paar Tage etwas außerhalb verbringen, um meinen Geist ungestört zur Ruhe zu bringen. Ich habe in letzter Zeit so oft Alpträume und das will ich jetzt nicht mehr.<<, antworte ich und muss mir ein Lachen verkneifen. Oh man. Ich glaube mir ja selber nicht, hoffentlich kauft er es mir ab.
>>Ist gut. Warte eben, ich hol´s dir.<<, entgegnet Melvit und geht in eine der Haupthütten unseres Stammes. Es dauert nicht lange, bis er mit einem 2-Mann Zelt wiederkommt. Ich bin überrascht, denn ich hatte schon Sorge, dass Rumer und ich uns in ein kleines Zeltchen quetschen müssen.
Ich nicke ihm dankend zu.
Als er geht, lege ich meine Tasche auf dem Boden und das Zelt daneben ab. Ich sehe nach, ob ich auch nichts vergessen habe. Es ist alles da soweit ich sehe. Also mache ich mich auf  den Weg zurück zu der Stelle, wo Rumer auf mich wartet.

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