Montag, 10. Dezember 2012

Rumer (5.)

Mein Pfeil zischt durch die Luft und trifft das Reh ins Herz. Jetzt habe ich insgesamt zwei Hasen, vier Wildhühner und das Reh. Und es ist stockdunkel. Zeit zurück zu gehen. Mehr werde ich bei dieser Dunkelheit sowieso nicht finden. Also binde ich dem Reh einen Strick um und schleife es hinter mir her. Dadurch komm ich so langsam voran, dass ich erst gegen zwei Uhr morgens wieder beim Stamm bin. Ich bring meine Beute in die Vorratskammer, die immer von jemandem bewacht wird. Der Wachmann hilft mir die Sachen einzulagern.
Ich wünsche ihm eine gute Nacht und begebe mich zu meiner Hütte. Dort ziehe ich mir ein sauberes Shirt und eine neue Hose an, öffne und bürste mein langes, blondes Haar, das ich am Tag immer zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden habe und tausche meine Jagdstiefel, die aus Leder sind, gegen normale Schuhe. Als ich damit fertig bin, gehe ich wieder raus zu Elions alter Hütte. Sie haben das Schild mit seinem Namen abgenommen. Natürlich. Sobald es nicht mehr Livvys Gefängnis ist, wird dort jemand neues einziehen. Aber bis dahin bleibt die Hütte namenslos.
Da tritt jemand aus dem Schatten. Eine Frau. Sie soll aufpassen, dass Livvy nicht abhaut.
>>Was willst du hier?<<, fragt sie und gähnt. Anscheinend ist sie schon den ganzen Tag auf den Beinen.
>>Ich löse dich ab. Geh schlafen.<<, antworte ich und lächel ihr gutmütig zu.
Ihr Gesicht hellt sich auf. >>Danke, Rumer. Bis dann.<< Mit diesen Worten geht sie.
So. Jetzt kann ich endlich allein mit Livvy reden, ohne das wir Gefahr laufen belauscht zu werden. Ich öffne Tür und stolpere fast über... Navin? Was macht der den hier? Er liegt vor der Tür neben Livvy. Beide schlafen. Ich mustere Navins Gesicht. Er sieht so unglaublich jung aus, wenn er so friedlich ist. Manchmal vergesse ich, dass er erst achtzehn ist.
>>Was zur Hölle machst du hier, Idiot?<<, schreie ich und stoße ihn unsanft mit dem Fuß an.
>>Au.<<, schreit er und setzt sich auf. Irritiert sieht er sich um. >>Rumer? Was machst du hier?<<
>>Die eigentliche Frage ist, was machst DU hier?<<, zische ich und funkele ihn böse an. >>Hast du Livvy was getan?<< Navin sieht schockiert aus.
>>Nein. Er ist hier, weil er mich beschützen wollte.<<, wirft Livvy ein, die ebenfalls wach geworden ist.
>>Was?<< Verwundert sehe ich zwischen Liv und Navin hin und her.
>>Ja, richtig gehört. Ich weiß doch, wie die Männer hier drauf sind. Das wollte ich ihr ersparen.<<, sagt Navin und hält sich die Seite.
>>Na nu? Was ist mit deiner Hand?<<, will ich wissen. An der Hand, in die ich ihn geschossen habe, prangt ein sauberer, weißer Verband. Auch Navin scheint verwirrt.
>>Das war ich.<<, meldet sich Livvy wieder.
>>Ich sagte doch, dass ich das nicht will.<<, beschwert sich Navin und will den Verband abreißen.
>>Lass das.<<, sage ich und lege ihm eine Hand auf die Schulter. Er hält in der Bewegung inne und schaut mich an. >>Es wäre doch eine Verschwendung, das zu zerstören. Findest du nicht?<<
Verschwendung ist in unserer Lage etwas, was wir uns nicht leisten können. Navin nickt.
>>Rückt mal ein Stück zur Seite, damit ich auch rein kann.<<, weise ich die beiden an und schließe die Tür hinter mir.
Sie machen mir Platz, so dass ich mich auch setzen kann.
>>Also, was machst du hier?<<, fragt Navin erneut.
>>Ich pass auf, dass sie nicht abhaut.<<, meine ich leichthin. >>Und ich pass auf, dass niemand sie belästigt. Du kannst also gehen.<<
>>Und wenn ich nicht will?<< Er sieht mich herausfordernd an.
>>Zwing mich nicht dir auch noch in deine zweite Hand zu schießen!<<
>>Aber du hast deinen Bogen gar nicht hier. Du bist unbewaffnet. Und ich bin stärker als du. Ich könnte mit dir anstellen, was ich will. Jetzt bin ich im Vorteil.<< Er grinst amüsiert. Und ich werde wütend. Wütend, weil er recht hat. Auch wenn Livvy noch hier ist. Sie könnte ihn auch nicht aufhalten.
Ich weiß zwar, dass Navin mich nicht anfassen würde, aber zu wissen, dass er es könnte, gibt mir ein Gefühl von Hilflosigkeit und ich hasse es hilflos zu sein. Ich war lange genug hilflos! Bis ich zwölf war. Bis ich endlich raus aus diesem Labor gekommen bin. Damals habe ich mir geschworen nie wieder hilflos zu sein. Nie wieder!
>>Geh.<<, sage ich leise. >>Bitte.<< Meine Stimme zittert. Wie peinlich.
Navin lächelt. >>Okay. Ich gehe. Aber nur weil ich dir versprochen habe heute keine anzüglichen Bemerkungen zu machen. Sorry, ist mir gerade erst wieder eingefallen.<< Er steht auf. >>Schade eigentlich. Ich hätte gerne erfahren woher ihr euch kennt.<< Erschrocken sehe ich ihn an, woraufhin er nur noch mehr lächelt. >>Gute Nacht, Rumer.<< Und dann geht er raus, schließt die Tür hinter sich und lässt uns allein.
>>Du bist ja ganz rot.<<, bemerkt Livvy und unterdrückt ein Lachen.
>>Bin ich gar nicht.<<, fauche ich sie an.
>>Schon gut. Ich meinte ja nur.<<, sagt sie und hebt abwehrend die Hände.
Wir schweigen eine Weile. Keine von uns weiß, wie sie anfangen soll. Dann beginne ich.
>>So. Wir haben also all die Jahre nur ein paar hundert Meter von einander entfernt gewohnt und uns nie gesehen.<<
>>Sieht ganz so aus.<<, meint Liv und lächelt.
>>Hast du Willow gefunden?<< Deshalb haben wir uns damals getrennt. Sie wollte ihre kleine Schwester, die süße, liebe Willow aus dem Labor holen. Ich wollte Keeden und Dereck suchen. Aber eigentlich war das nur ein Vorwand. Ich wollte nicht zurück zum Labor. Es ging einfach nicht. Ich hatte zu viel Angst. Aber diese Angst hat mir in der Zeit danach Kraft gegeben. Hat mich stark gemacht.
Doch wir hätten uns nicht trennen sollen. Es hätte sonstwas passieren können. Liv war meine Familie. Ich hatte niemanden außer ihr, nachdem Keeden und Dereck weg waren. Zwar hab ich versucht sie zu vergessen, meine Vergangenheit hinter mir zu lassen, aber ich bin froh, dass ich sie wieder gefunden hab.
Livvys Lächeln verschwindet und sie senkt den Kopf. >>Nein. Sie ist bei den Ausgestoßenen.<<
Oh nein. Dann hat sie nicht mehr viel Zeit zu leben. Liv schluchzt. Ich krieche zu ihr und nehme sie in den Arm.
>>Hey, nicht weinen.<<, flüstere ich und streiche ihr über den Kopf. >>Wir werden sie schon finden.<<
Livvy sieht mich ungläubig an. >>Wir?<<
Ich nicke zögerlich. >>Ja. Ich helfe dir.<<
Sie beginnt zu strahlen und schlingt die Arme um mich. >>Dankeschön. Ich danke dir, Rumer.<<
>>Ist doch selbstverständlich.<<
Nach einer Weile fragt sie: >>Was ist mit Dereck und Keeden?<< Meine Kehle schnürt sich zu.
>>Ich hab sie nicht gefunden. Ich bin ein halbes Jahr lang durch die Gegend gestreift. Entweder sind sie weiter weg gegangen oder...<< Ich muss es nicht aussprechen. Liv weiß, was das oder ist. Der Tod.
>>Ich lass dich mal besser schlafen. Die Leute werden Fragen stellen, wenn ich noch hier drin bin, wenn es hell wird. Schlaf schön. Und keine Angst, ich bin gleich vor der Tür.<<, meine ich und stehe auf.
>>Bis dann.<<, meint Liv und gähnt herzhaft. Ich gehe raus und schließe die Tür. Dann setze ich mich direkt davor auf den Boden. Ich lehne meinen Kopf an und versuche nicht einzuschlafen, aber ich tue es trotzdem.

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