Mittwoch, 1. Mai 2013

Rumer (37.)

Ich wache, in meinen Schlafsack gehüllt, auf. Langsam gewöhnen sich meine Augen an das dämmrige Licht und ich drehe den Kopf zur Seite. Navin liegt schlafend neben mir, seine Brust hebt und senkt sich in gleichmäßigen Abständen. Er sieht so friedlich aus, wenn er schläft, dass ich ihn nicht wecken will. Also stehe ich leise auf und krabbel aus dem Zelt. Weil Livvy unser Zelt noch braucht, haben Navin und ich nur eins mit dabei, was bis jetzt ganz gut funktioniert. Und wenn er meint, wieder dumme Sprüche klopfen zu müssen, dann ist er es, der draußen im Freien schläft, darauf kann er sich verlassen.
Das Feuer gestern Abend, haben wir angelassen, weil wir uns wieder einer Strahlungszone nähren und die mutierten Tiere nur vor Feuer Angst haben. Mittlerweile ist das Feuer zwar schon längst aus, aber wir wurden ja auch nicht angegriffen, also hat der Plan geklappt.
Gähnend strecke ich mich und überprüfe danach die Gegend in einem Umkreis von hundert Metern. Keine Angreifer. Keine Beute. Bis auf ein paar kleine Vögel in den Bäumen, die langsam anfangen zu singen, sind Navin und ich hier allein.
Seit einer Wochen, also seit unserem Aufbruch von den Ausgestoßenen, hat kein Mensch unseren Weg gekreuzt. Es erinnert mich daran, als ich mit Livvy vor dem Cazanara-Stamm geflohen bin. Dem einzigen Ort, wo ich ein richtiges Zuhause hatte.
Seit dem habe ich mich schon oft gefragt, wie es wohl wäre, wenn ich sie nicht wiedergesehen hätte. Wäre ich bis an mein Lebensende bei meinem Stamm geblieben und hätte mit Navin gejagt? Hätte ich Keeden und Dereck jemals wieder getroffen? Hätte Navin mich jemals geküsst? Hätte ich jemals angefangen in ihm mehr als meinen nervigen Jagdpartner zu sehen? Wäre das Loch in meiner Brust, dass meine Freunde damals nach der Flucht, als wir getrennt wurden, dort hinterlassen haben, jemals wieder geheilt? Hätte ich je aufgehört nach ihnen zu suchen?
Für die meisten Fragen habe ich keine Antworten, aber eins ist klar: Liv, Keeden und Dereck hätten mir immer gefehlt. So wie jetzt auch wieder. Sie sind meine Familie. Und ich hätte niemals aufgehört nach ihnen zu suchen.
Dieses Mal ist es leichter von ihnen getrennt zu sein, weil ich weiß, dass sie alle noch leben und dass sie nachkommen werden. In den letzten Tagen habe ich alle hundert Meter mit meinem grünen Fallenband einen Baum markiert, damit sie wissen, dass sie auf dem richtigen Weg sind.
Nach dem ich meine Runde zu Ende gedreht habe, gehe ich zurück zum Lager, wo Navin schon dabei ist, dass Zelt abzubauen.
>>Guten Morgen.<<, sage ich, als ich näher komme.
Er blickt auf und grinst, was bei mir für ein Kribbeln in der Magengegend sorgt. >>Na. Gut geschlafen?<<
Ich nicke, verwirrt über meine Reaktion. Das geht schon länger so. Irgendwas hat sich zwischen Navin und mir verändert. Aber ich wage nicht zu sagen, was es ist. Ich knie mich hin und helfe ihm dabei die Plane einzurollen, was ungefähr so zu verstehen ist, dass er die einen beiden Enden festhält und ich die Plane einrolle. Als ich bei ihm ankomme, merke ich, dass er mich ansieht und erröte.
Was verdammt nochmal ist nur los mit mir?
Ruckartig stehe ich auf und mache mich daran die anderen Sachen, wie zum Beispiel mein Fallenband, wieder in meine Tasche zu packen. Navin steckt das Zelt in seinen Rucksack und beobachtet mich grinsend.
>>Hast du nichts besseres zu tun?<<, fauche ich ihn an und hänge mir meine Tasche um.
>>Nein, ich kann mir nichts besseres vorstellen, als dir dabei zu zugucken, wie du dich zum Affen machst.<< Sein Grinsen wird noch breiter.
>>Jetzt reicht's!<< Wütend gehe ich auf ihn zu und versuche ihn zu schlagen, aber er hat es kommen sehen und hält mein Handgelenk fest. Ich hole mit der anderen Hand aus, aber er ist wieder schneller. Halten wir fest: Er hat meine beiden Handgelenke umklammert und ich stehe nutzlos vor ihm rum. Verdammte Pattsituation.
Ich könnte ihm zwar in die Eier treten, aber ich habe Angst, dass er mir dann nicht mehr helfen würde. Und ich will nicht, dass er geht.
Also stehen wir einfach voreinander und sehen uns an.
Seine Augen sind grau, wie die aller anderen Menschen, die keine Angens sind, aber ich würde sie überall wieder erkennen. Diese Augen sind mir so vertraut, wie meine eigenen. Und trotzdem ist er für mich ein Rätsel. Seit ich ihn kenne, habe ich nie gelernt seine Handlungen oder Reaktionen außerhalb der Jagd vorauszusehen, so wie er es bei mir kann. Wie zum Beispiel seine nächste Frage, die mich vollkommen unvorbereitet trifft. >>Darf ich dich küssen, Rumer?<<
Mein Magen beginnt zu kribbeln und meine Hände werden ganz schwitzig. Bevor ich mich daran hindern kann, nicke ich.
Und dann legen sich seine Lippen auf meine und meine Knie geben nach, aber er schlingt seine Arme um mich und stützt mich, hält mich fest. Noch nie habe ich mich so sicher gefühlt.
Seine Lippen sind warm und weich und nach einem kurzen Zögern erwidere ich seinen Kuss. Ich lasse meine Hände, die nun wieder frei sind an seiner muskulösen Brust hochwandern und lege sie dann in seinen Nacken, um ihn noch näher an mich heran zu ziehen. Er stöhnt leise auf und lässt eine Hand in mein Haar gleiten.
Ich weiß nicht, wie lange wir uns so küssen, aber als er sich zurück zieht, kommt es mir viel zu kurz vor.
Navin ist außer Atem und auch ich habe Probleme Luft zu bekommen. Er legt seine Stirn an meine, wobei er sich wieder, wie eben beim Küssen, zu mir runter beugen muss und ein Lächeln umspielt seine Lippen.
Mein Magen spielt immer noch verrückt und ich versuche, dass, was da gerade geschehen ist zu verarbeiten. Er hat mich geküsst. Und ich habe ihn zurück geküsst. Und es hat mir gefallen.
>>Rumer?<<, flüstert er leise und ich sehe ihn nur fragend an, weil ich gerade nicht in der Lage bin irgendwas zu sagen. Er grinst, weil er genau weiß, was er bei mir ausgelöst hat und flüstert ganz leise: >>Ich liebe dich.<<

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