Samstag, 2. August 2014

Rumer (53.)

Als Livvy und die anderen zurückkommen, liege ich wieder unter dem Baum und starre in die Äste, die sich über meinem Kopf kunstvoll verflechten und beobachte, wie die Lichtstrahlen je nach Stand der Sonne anders durch das Blätterdach brechen und unterschiedliche Schattenmuster auf mein Gesicht werfen. Das Navin gegangen ist, zerrt an mir. Ich weiß, dass er es wieder nur tut, um mir zu helfen. Und das obwohl ich so scheiße zu ihm war. Ich bin so eine blöde Kuh!
Meine Freunde grüßen mich kurz und zeigen mir stolz ihre Beute. Die Jungs haben eine Hirschkuh erlegt und machen sich nun daran ihr das Fell abzuziehen und sie auszuweiden. Liv verzieht angewidert das Gesicht und kommt auf mich zu. Sie setzt sich neben mich in den Schatten.
>>Ich finde es so schrecklich.<<, sagt sie und sieht mich an.
>>Es muss getan werden. Es sei denn du willst, dass wir alle verhungern.<<, erwidere ich und setze mich auf. Der Tag ist beinahe vorbei. In wenigen Stunden wird die Nacht hereinbrechen. Ich frage mich, ob Navin einen sicheren Ort zum Schlafen findet. Wenn man in einer Gruppe reist, ist es unwahrscheinlich angegriffen zu werden, aber ein Einzelgänger könnte von einer Gruppe Plünderer oder von wilden Tieren überfallen werden.
>>Wo ist Navin?<<, fragt Livvy in dem Moment und reißt mich damit aus meinen Gedanken.
Ich seufze. >>Er ist weg.<<
Fragend hebt sie eine Augenbraue. >>Habt ihr euch gestritten?<<
>>Nicht mehr als sonst.<<, murmele ich und weiche ihrem Blick aus. Sie fragt nicht weiter nach und dafür bin ich ihr sehr dankbar. Fakt ist: Ich habe mir in den vergangenen Tagen nichts sehnlicher gewünscht, als das Navin mich endlich in Ruhe lässt und alles wieder so werden kann, wie es sein sollte. Liv, Dereck, Keeden und ich. Aber jetzt wo er weg ist, wird mir erst klar, dass Navin genauso zu mir gehört wie meine Freunde. Er war vier Jahre lang ein Teil meines Lebens und die erste Person außerhalb des Labors der ich mich verbunden fühle und der ich vertraue. Und ja verdammt ich habe Gefühle für ihn, auch wenn ich mir das nicht immer eingestehen möchte. Er ist ein selbstverliebter, arroganter Vollidiot, der es liebt mich auf die Palme zu bringen und er genießt es, aber ich weiß auch, dass er immer für mich da ist und auf meiner Seite steht. Egal was für haarsträubende Ideen ich auch habe. Selbst so etwas völlig verrücktes wie das Labor anzugreifen.
Mein Blick gleitet zu Keeden, der gerade geschickt das Reh vorbereitet. Kann ich mir meine Gefühle für Navin wirklich erlauben, wenn ich weiß, dass ich Keeden damit das Herz breche? Er war in der schlimmsten Zeit meines Lebens für mich da und hat dafür gesorgt, dass ich nicht zerbrochen bin. Und es war Keeden, der mich in meinen schwächsten Momenten gesehen hat und für mich da war und mich trotzdem immer für stark gehalten hat.
Ich denke jeder Mensch kann entscheiden zu wem er gehört. Und niemand ist gezwungen allein zu sein. Allein zu sein ist nur eine weitere Wahlmöglichkeit.
Liv hat natürlich einerseits ihre Schwester, aber sie hat sich auch ausgesucht zu Dereck zu gehören und Dereck hat im Gegenzug Livvy gewählt. Wenn man die beiden zusammen sieht, würde niemand ihre Zusammengehörigkeit bestreiten.
Keeden hat entschieden, dass er und ich zusammen gehören. Vielleicht ist das wahr. Vielleicht ist das der Grund, weshalb wir das fühlen was der andere fühlt. Liv und Dereck gehören schließlich auch zusammen. Vielleicht ist es vorherbestimmt, dass Keeden und ich letzten Endes immer zusammen gehören werden. Der Gedanke ist wirklich tröstlich. Und wen könnte ich mir besseres aussuchen, als Keeden?
Trotzdem sind da meine Gefühle für Navin. Er hat gesagt, dass er mich liebt. Er gehört zu mir.
Aber zu wem gehöre ich?

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